Genuss und Trinkgeld

Stimmt so? Geschichten und Lügen

Gott zwischen den Seiten

In der großen Buchhandlung in der Innenstadt erstand ich: ein Buch. Zu Hause entfernte ich die Plastikfolie, was mir immer großen Spaß bereitet, aber nur, wenn die Folie dünn ist und sich leicht entfernen lässt. Ich schlug das brandneue Buch auf – und entdeckte sofort einen bräunlichen Fleck auf Seite 11. Meine Finger sind offenbar elf Seiten lang, überlegte ich wirr, und betrachtete den wunderlichen Fleck. Er war hart und krustig.

Was war das? Vogelkot? Blut? Ein plattgewalztes Tier? Ausgelaufene Farbe? War das vielleicht sogar Gott?

Zunächst wollte ich mir einreden, dass mich der Fleck nicht stört, dann aber überwog mein innerer Pedant, der schrie: «Ein Fleck in einem 30 Euro teuren Fachbuch ist inakzeptabel. Das bringen Sie so schnell es geht zurück!» Ich willigte ein, na gut, dann tausche ich das Buch eben um. Der Fleck hätte mir sicherlich schlaflose Nächte bereitet.


Donnerstag. Zurück im großen Buchladen in der Innenstadt lief ich aufgeregt zum freien Service-Schalter im zweiten Stockwerk.

«Hören Sie, begann ich, dieses Buch –»

«Wollen Sie das zurückgeben? Geht nur an der Kasse», grummelte die Frau mittleren Alters, deren schweigender Mund sodann ein umgedrehtes u beschrieb.

«Oh», summte ich und stellte mich an die Kasse, die sich gleich neben dem Service-Schalter befand. Viele Menschen standen dort, und ein Hund, der eine Jacke trug. Er hatte zudem sehr dünne Beine. Dem Hund war anzusehen, dass er einfach nur nach Hause wollte. Aber sein Herrchen ließ sich am Geschenkeverpackungsservice, der sich neben der Kasse befand, ein Buch verpacken.

«Haben Sie auch eine Tüte?», fragte der Mann die Verpackungskünstlerin, während sie gekonnt das Buch in Papier einschlug. Sie konnte sich meiner Bewunderung sicher sein.

Beeil dich, sagte der Hund mit seinen Augen.

«Eine Tüte kostet 20 Cent.»

Beeil dich, wiederholte der Hund flehend.

Kurz stand der Mann einfach nur da, er musste die neue Information in Ruhe verarbeiten. Ich wartete gespannt ab, 20 Cent sind viel Geld.

«Dann nicht», sagte er schließlich in einem scharfen Ton, klaubte das hübsch verpackte Buch vom Counter und stapfte samt Hund davon.

Vor mir standen noch fünf Leute. Die Zeit verging. Es wurde kassiert. Viele zahlten in bar. Als ich schließlich dran war, nahm der Kassierer das Buch entgegen, es war alles Routine, unendliche Langeweile.

«Da ist ein Fleck auf Seite 11», informierte ich.

«Aha.»

«Der Fleck ist komisch», ergänzte ich unaufgefordert.

Der Mann öffnete das Buch und es dauerte erstaunlich lange, bis er Seite 11 fand. Als würde Seite 11 nicht der Seite 10 folgen und stattdessen völlig willkürlich in dem Buch auftauchen. Er betrachtete den Fleck für zwei Sekunden und klappte das Buch wieder zu.

«Kann ja sein, dass ein Tier in die Walzen geraten ist», sagte er.

«Zum Beispiel.»

Der Kassierer reichte das Buch zu der Frau am Service-Schalter. Es war die Frau mit der Brille, die Frau mit dem umgedrehten u als Mund.

«Ist das Buch defekt?», fragte sie.

«Da ist ein Fleck auf Seite 11», half ich aus.

«Hm», sagte sie und notierte diese Information auf einem Zettel.

«Haben Sie zehn Cent?», fragte mich der Kassierer.

«Nein, leider nicht. Habe ich nie.»

Er gab mir das Geld zurück, 29,90 Euro in bar. Ich bekam viele Centmünzen.

«Tschüss.»

Nun stand ich da, ohne Buch. Eigentlich wollte ich ein neues haben, eins ohne Fleck. Aber im Regal stand es nicht mehr. Ich hätte es bestellen können, aber dazu hätte ich an den Service-Schalter gemusst – glaube ich. Egal, ich geh erst mal nach Hause, was essen, ein wenig auf dem Sofa sitzen, dachte ich, und tat genau dies.


Am Samstag behauptete die Website des Buchladens, das Buch sei wieder verfügbar. Also fuhr ich in die Stadt und betrat den großen Buchladen. Aber im Regal stand es nicht. Hatte die Website mich belogen? Bei einer Fachkraft fragte ich nach. Sie tippte ein paar Buchstaben in ihren Intel-Pentium-3-Rechner, Windows 93 rödelte, dann sagte die Fachkraft: «Das Buch haben wir nicht da.» Ob sie es bestellen soll? Ich dachte kurz darüber nach und sagte schließlich: «Na gut.» Verspätet wurde mir die Konsequenz des erteilten Auftrags bewusst: Ich würde abermals herkommen müssen, wie so ein Hurensohn.


Am Montag lag das Buch in der Buchhandlung zur Abholung bereit. Eine E-Mail informierte mich über diesen Umstand. Ich solle den Mitarbeitern am Service die Abholfach-Nummer nennen. Sie lautete 010_0311_220. Das tat ich dann am Abend am Service-Schalter. Wieder hatte der Uhu mit Brille Dienst.

«Ich möchte ein Buch abholen», gestand ich.

«Haben Sie die Nummer vom Abholfach?»

«Ja», sagte ich und sagte die Nummer auf: «null, eins, null, Unterstrich …»

Sie murmelte irgendetwas, das ich nicht verstand. Wahrscheinlich waren es üble Flüche, gerichtet an irgendeinen Dämon der Unterwelt. Aus einem der vielen Fächer zupfte sie das Buch heraus und hielt es mir hin.

«Wollen Sie das sogleich bezahlen oder noch mal angucken?»

«Hmm», machte ich und beäugte das Buch. «Das nehme ich sofort.»

Während sie das Buch vom Service-Schalter zur Kasse trug, entdeckte ich aus der relativen Ferne jedoch eine tiefe Kerbe im Cover. Außerdem war die eine Ecke ziemlich ramponiert und angestoßen.

«Oje, das ist ja beschädigt», nölte ich und deutete auf die Stellen.

«Das nehmen Sie nicht!», brüllte mein innerer Pedant aufgebracht.

«Ich kann Ihnen einen Rabatt geben», sagte die Service-Frau.

«Interessant», sagte ich. «Wie viel wäre das?»

«Neunzig Cent. Wollen Sie das Buch nun haben?»

«Ja … also … dann nehme ich es nicht», stammelte ich.

«Aha. Sie können es noch einmal neu bestellen.»

«Dann mache ich das», sagte ich, war aber von meinen eigenen Worten nicht überzeugt.

«Sie müssen zu meinem Kollegen gehen», sagte der Uhu und deutete in die Weiten des endlosen Raumes. In der Ferne stand ein kleiner Buchhändler an einem der PCs und bediente Menschen und Hunde und eine Giraffe.

«Oder ich lasse es», murmelte ich und lief so schnell wie ich konnte nach Hause und weinte bitterlich, viele Abende lang, nur noch heulen.

Epilog

Ich habe das Buch schließlich bei einem anderen Buchladen bestellt, einem kleinen Laden, der sich in der Nähe meiner Arbeitsstätte befindet. In der Mittagspause lief ich hin und holte das Buch ab. Ich zahlte «mit Karte», dann fragte die Buchhändlerin, ob sie mal meinen Ausweis sehen könne, denn auf der Girocard fehle die Unterschrift.

«Ach so, die ist neu», erklärte ich.

Ich verließ den Laden, das Buch war endlich meins. Doch es war nur noch Leere, die ich fühlte. Daheim konnte ich keine Mängel an dem Exemplar feststellen. Ob ich es jemals lesen werde? Natürlich nicht.