Genuss und Trinkgeld

Stimmt so? Geschichten und Lügen

Herrenloser Koffer

Der Weg zum Hauptbahnhof ist versperrt. Im lauen Wind flattert ein rot-weißes Absperrband, auf dem in schwarzen Lettern «Polizeiabsperrung» steht. Am Flatterband haben sich einige Dutzend Menschen versammelt, die gespannt auf den grauen Platz schauen. Dort sind sonst die Leute unterwegs, eilen von einem Geschäft zum nächsten, von Zara zu H&M, von C&A zum Apple Store. Es ist Samstagnachmittag, die Innenstadt ist voll. Nur für diesen Augenblick bleibt der zentrale Platz in der Stadt leer. Nur ein paar Polizisten schreiten über den Platz und passen auf, dass niemand die überwindbare Sperre überwindet. Erst auf den dritten Blick entdecke ich den Grund für die Absperrung – ein schwarzer Koffer steht da mitten auf dem Platz, an einem bunt beklebten Stromkasten.

Ein herrenloser Koffer.

Neben mir stehen ein paar herrenlose Mädchen. Sie sind übertrieben geschminkt, eine raucht. Der Polizist am Absperrband sagt, das sei nicht gut für ihre Haut. Die Freundin schreit auf: «Sag ich doch, und sie ist nicht mal achtzehn!»

«Lass das, sei ruhig!», zischt die junge Raucherin und wird ein bisschen rot.

Plötzlich rennt der gesundheitsbewusste Polizist los und stößt einen Mann zurück, der einfach über den Platz laufen wollte.

«Was ist denn los?», will der Geschubste wissen.

«Das darf ich Ihnen nicht sagen», behauptet der Polizist.

Vor zwanzig Minuten schrieb die Polizei auf Twitter, dass es um einen verdächtigen Koffer geht. Vorsichtshalber habe man den Platz gesperrt, sicher ist sicher.

«Ist bestimmt nur Unterwäsche drin», sagt ein junger Typ neben mir.

«Ja, Unterwäsche», wiederholt sein Kumpel.

Sie lachen. Unterwäsche. Verrückt. Und ich glaube, dass wir alle wissen, dass da wirklich keine Bombe in dem Koffer ist. Auch die Polizisten wirken nicht sehr angespannt. Sie lachen und scherzen.

Gegenüber sehe ich eine junge Frau mit pinken Haaren. Sie ist Verkäuferin bei H&M. Die Glastüren sind geschlossen. Sie schaut nach draußen, schaut nach den Kunden. Jede Minute kostet Geld.

Ein Polizist fotografiert den herrenlosen Koffer. Mit Blitz. Von allen Seiten. Der Polizist am Flatterband sagt, dass gleich die Spurensicherung kommt. Die Spusi. Die nimmt dann Fingerabdrücke.

«Is‘ doch lächerlich, seit wann ist es verboten, seinen Koffer zu vergessen?», fragt einer.

«Na, na, da hat schon jemand angerufen», sagt der Polizist. «Hat gesagt, da ist eine Bombe.»

«Ach, echt?», fragt der Junge neben mir. Er ist jetzt richtig aufgeregt. Eben noch wollte er gehen, ihm war langweilig, «ist ja eh keine Bombe da». Haha.

«Das ist mein Koffer!», sagt ein Mädchen laut.

Hahaha, macht der Polizist, sagt: «Das ist ja witzig! Nein, oberwitzig!»

Die Mädchen lachen viel und laut, «kann ich den dann wiederhaben?», fragt es.

Ein Polizist macht den Koffer schließlich einfach auf, zupft Wäsche heraus, bunte Wäsche, Unterwäsche.

«Och, keine Bombe?», sagt der junge Typ.

Er und die Leute sind enttäuscht. Wir dürfen endlich weiter gehen, «aber erst mal nur unten entlang, durch die U-Bahn-Station», sagt der Polizist.

Eigentlich sollte es regnen, aber nun scheint die Sonne.