Hamburg, 5. Dezember. Im Wagon der Hochbahn drängen wir uns um die Stange herum und versuchen Halt zu finden. Wir halten uns feste fest. Die Stange ist warm, weiter oben ist sie kälter, aber da kommt jetzt keiner ran.
An der Tür stehen drei Mädchen. Sie haben Wein dabei, Weißwein, im grünen Tetrapak. Eine Melange aus süßlichem Duft, schlechtem Atem und Parfüm wabert durch die stickige Luft. Die Türen piepen aufgeregt und schieben sich zu. Kurz ist es still, dann setzen wir uns in Bewegung, ein Ruck geht durch die Körper, die sich dicht aneinander drängen. So fällt wenigstens keiner um.
«Das ist Klaustrophobie-Training», sagt sie.
«Echt Scheiße», sage ich.
Und plötzlich wird mir meine Situation klar: mit so vielen Menschen, warmen Körpern, in dieser engen Röhre, unter der Erde, kein Ausweg. Eingesperrt.
Das Mädchen mit dem Tetrapak lacht ein dreckiges Lachen. Sie hat schlechte Haut, fettige Haare, ein Piercing in der Unterlippe. Ihr Freund sieht auch beschissen aus, dieser junge Körper hat schon was mitgemacht. Jedes Wochenende ein bisschen Party, Wein trinken, Bier und Schnaps. Manchmal ein paar aufs Maul.
Am Hauptbahnhof der große Exodus. Wir können wieder atmen. Ein Pärchen steigt ein, setzt sich auf die lange Bank am Ende des Wagens. Er legt seine Arme um sie und sie schmiegt sich an ihn. Sie erzählt, dass sie sich als Lehrerin wirklich für ein Thema interessieren muss – nur dann würden sich auch ihre Schüler dafür interessieren. Ihr Freund nickt, ja, so muss das wohl sein.
Weiter vorne sitzen drei Jungs. Die lernen alles auf der Straße und nicht im Klassenraum. Sie haben eine Flasche Wodka dabei, die fast leer ist. Sie reden so laut, dass wir alle hören können, wie er einer Festnahme entgangen ist. Schlägerei, den hat er fertig gemacht. Um sein Hals liegt eine silberne Kette. Seine Haare sind kurz, in sein Gesicht will ich gar nicht schauen. Kein Augenkontakt, sonst kommt der noch rüber. Dann erzählt er später von mir.
Blut an der Faust /
Krankenhaus
In solchen Momenten ist die Großstadt kein Sehnsuchtsort. Lieber nicht ein Leben hier leben, in Hamburg, zwischen den Säufern, Pennern und Bettlern, zwischen den Jugendlichen, die sich in kleinen Gruppen versammeln und dann Zeit verplempern und sich billigen Fusel in den Rachen kippen. Ab zu LIDL, Nachschub holen. Ihnen gehören die Hoch- und S-Bahnen, der Bahnhof, der ganze Scheißkiez. Hier herrschen die Proleten und Frustrierten, die Spinner und Schläger, BMW-Fahrer und Mörder. Sie sind echte Kerle, die aber wissen, dass ihr Leben schon jetzt seinen traurigen Höhepunkt erreicht hat. Mehr kommt da nicht. Außer einer Haftstrafe, irgendwann. Der BMW kommt dann in die Garage, für ein paar Jahre, die es gibt, wenn man jemandem das Gesicht aufreißt oder einer Frau die Nase bricht oder einem, der zu lange in fremde Augen schaute, ein Messer zwischen die Rippen schiebt. Was glotzt du so?
Ich bin umgeben von Opfern. Und die Täter schreien sich an, aber keiner sagt was. Bloß schnell ankommen, wieder raus hier, an die frische Luft, in den kalten Wind. Keiner würde auf die Idee kommen, den drei Jungs zu sagen, dass sie hier eigentlich nicht rauchen dürfen und eigentlich nicht trinken dürfen und dass man eigentlich nicht die Polster bekritzelt und, und, und … Aber wir schweigen und gucken auf den Boden.